Welche Inhalte kennzeichnen die Scharia und welche Bedeutung hat sie für Europa? Heute angesichts einer rund 4 Mio. Menschen umfassenden Migrantengemeinschaft aus islamisch geprägten Ländern in Deutschland und wahrscheinlich mindestens 20 Mio. in ganz Europa wahrhaftig kein abseitiges Thema. Dies gilt um so mehr, als sich der politische Islam – der Islamismus – als Referenzrahmen für Leben und Glauben auf die Scharia beruft, ja, auch in seiner letztlichen Beurteilung der Gesellschaftsordnung und Politik Westeuropas als Maßstab die Scharia als unaufgebbare Zukunftsordnung betrachtet. Daher ist im Zeitalter der Globalisierung auch für den europäischen Kontext die Auseinandersetzung mit Rechtsvorstellungen im Islam so aktuell wie nie zuvor.
Die Anfangsgründe der Scharia wurzeln in Muhammads Wirken in Mekka ab etwa 610 n. Chr., dem Beginn seiner Verkündigungen, mehr aber noch in seiner Rolle als Gesetzgeber und Heerführer nach seiner Übersiedlung nach Medina im Jahr 622 n. Chr. Vor allem der medinensische Islam ab 622 n. Chr. umfasst eng miteinander verzahnt religiöse wie rechtliche Aspekte, die Gottesverehrung betreffende wie gesellschaftliche Regelungen, die später, nach Muhammads Tod, in die Niederschrift des Korans eingingen.
Bedeutung des Begriffs der „Scharia“
Der Begriff „Scharia“ wird häufig übertragen mit „islamisches Recht“ oder „islamisches Gesetz“; was allerdings insofern unzutreffend ist, als dies nahe legt, dass es bei der Scharia um einen durch ein rechtsgebendes Gremium erlassenen Korpus eindeutig definierter Gesetze geht, was nicht der Fall ist: Die Scharia bleibt in gewissem Umfang interpretierbar.
Die Scharia umfasst alle rechtlichen Regelungen und meint die Gesamtheit der Gebote Gottes, so wie sie im Koran und der islamischen Überlieferung niedergelegt und von frühislamischen Theologen interpretiert wurden. Was nun der Koran jedoch genau rechtlich regeln will – proklamiert er z. B. die Vielehe oder lehnt er sie gerade ab? – darüber herrscht im Einzelfall unter Theologen durchaus Dissens. Das bedeutet, dass es die Scharia als verfaßtes Gesetz gar nicht geben kann.
Die Scharia regelt gleichermaßen die vertikalen wie horizontalen Beziehungen jedes Menschen: sie gibt Anweisungen für das ethische Verhalten wie für die Beziehungen zu Familie und Gesellschaft (z. B. im Wirtschafts-, Erb-, Stiftungs-, Ehe- und Strafrecht), aber sie reglementiert auch die Glaubensausübung und religiösen Handlungen (vor allem die Praktizierung der „Fünf Säulen“: Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Wallfahrt). Das bedeutet, dass der Ablauf des täglichen rituellen Gebets damit ebenso wenig in das Belieben des einzelnen gestellt ist wie die schariarechtlich notwendigen Klauseln eines Ehevertrags, die erfüllt sein müssen, um die Ehe zu einer rechtlich „gültigen“ Ehe zu machen. Maurits Berger bezeichnet die Scharia zutreffend als „ein Regelwerk für alles, was sich im Leben eines Menschen ereignen kann, für all sein Verhalten und seine gesamte Lebensweise. Sie beschäftigt sich gleichermaßen mit dem richtigen Verhalten im Badezimmer ebenso wie auf dem Schlachtfeld, auf dem Markt wie in der Moschee.“[1]
An der Theorie der Autorität der Scharia hat sich seit dem 10. Jahrhundert in der etablierten Theologie insgesamt wenig geändert – obwohl es zahlreiche kritische muslimische Stimmen gegen ein ahistorisches und/oder politisiertes Schariaverständnis gibt.
Aber auch dort, wo Scharianormen nur teilweise gesetzliche Gültigkeit besitzen, haben sie teilweise erheblichen Einfluss durch ihre gesellschaftliche Prägekraft für alles Verhalten und ihren Anspruch, das eigentlich gültige, weil göttliche Gesetz zu sein. Mag man sich auch an die staatlichen Gesetze (wie z. B. die in der Türkei vorgeschriebene Einehe) meistens halten, ist doch die Scharia von der etablierten Theologie in ihrem allumfassenden Anspruch niemals grundlegend relativiert oder in Frage gestellt worden und gilt auch heute vielen Menschen als der eigentliche Bezugsrahmen für Leben und Glauben. Eine Folge davon ist z. B., dass es – besonders im ländlichen Bereich der Türkei – sehr wohl zu den nach der Scharia gestatteten Mehrehen kommt, auch, weil dies mit der ‚gefühlten’ Berechtigung zur Höherordnug der Scharia über jedes weltliche Gesetz korrespondiert.
Daher wäre eine Geringschätzung der praktischen Bedeutung der Scharia irrig, auch wenn sie in zahlreichen Ländern in vielen Bereichen gar nicht oder nur teilweise gesetzlich zur Anwendung kommt. Im Alltag sind ihre Normen durch Moscheepredigten, durch die bei Heiraten, Trauerfeierlichkeiten, Festivitäten u. ä. zitierten Überlieferungstexte, durch Traditionen und das dadurch geprägte Rechtsempfinden in vielen Bereichen präsent.
Die Scharia als „Weg zur Tränke“
Im Koran kommt der Begriff „Scharia“ nur ein einziges Mal vor (Sure 45,18), wird dort aber nicht zur Bezeichnung eines ausgefeilten Rechtssystems verwendet, sondern bedeutet „Ritus“ oder „Weg“. Der Begriff meint ursprünglich „Weg zur Tränke“, denn „das Heil, zu dessen Erwerb Gott die Gelegenheit bietet, gleicht einer Tränke in der Wüste.“[2] Die Begrifflichkeit des „Weges“ weist auf ein zentrales koranisches Motiv hin: Der Mensch, der zwar nicht grundsätzlich böse oder sündig, aber doch schwach und beeinflussbar ist, muss von Gott den rechten Weg geleitet werden. Diese Formulierung der „Rechtleitung“ taucht im gesamten Korantext auf und wird bereits in Sure 1,6 mit der Wendung benutzt: „Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen du [durch die göttliche Rechtleitung] Gnade erwiesen hast“ (1,7). Diese Rechtleitung geschieht durch die Rechtsordnungen Gottes. Wer sie nicht beachtet, wird zu „denen gehören, die deinem Zorn verfallen sind und irregehen“ (1,7).
Im Koran selbst besitzt der Begriff „Scharia“ also noch nicht die Bedeutung eines Rechtssystems. Erst im Verlauf einer längeren Entwicklung, die ungefähr mit dem 8. Jahrhundert n. Chr. beginnt und mit dem 10. Jahrhundert ihr vorläufiges Ende findet, wird der Begriff der Scharia zu einem Synonym für „Gottesrecht“.
Weil es sich um Gottes Recht handelt, wird die Scharia als vollkommene Ordnung betrachtet, die jeder Gesellschaft Frieden und Gerechtigkeit bringt, denn eine homogene Gesellschaft, die unter seiner vollkommenen Rechtsordnung lebt, muss auch eine friedliche Gesellschaft sein. Auch das ist eine Begründung für die häufige Aussage, „Islam“ bedeute „Frieden“ oder „Frieden machen.“
Weil die Scharia von Gott selbst gegeben ist, ist sie theoretisch nicht reformierbar oder hinterfragbar – de facto wird sie selbstverständlich durch abweichende gesetzliche Bestimmungen oder die persönliche Lebensführung vieler Menschen mindestens teilweise außer Kraft gesetzt – von der etablierten Theologie in ihrem theoretischen Anspruch jedoch nicht hinterfragt, denn Kritik der Scharia bedeutete, menschliche Erwägungen über das Gesetz Gottes zu stellen. Da die Scharia Normen für alle Lebensbereiche enthält, räumt sie selbst keinen Raum für einen rein säkularen, von der Religion abgetrennten Bereich ein: „sich zu dieser Religion bekennen, ohne das Gesetz in seiner Gänze zu bejahen und als unbezweifelbaren und stets gültigen Maßstab für jegliches Tun und Lassen zu befolgen, ist unmöglich; denn das Gesetz ist ein wesentlicher Teil der islamischen Heilsbotschaft.“[3]
Grundlagen der Scharia
Dennoch ist die Scharia kein kodifiziertes Gesetzbuch, vergleichbar etwa mit dem „Bürgerlichen Gesetzbuch“. Es ist vielmehr ein Regelwerk, das auf mehreren Quellen basiert, die ihrerseits bereits interpretierbar sind: dem Koran, der Überlieferung sowie deren weitgehend als normativ anerkannte Auslegungen durch frühislamische Juristen und Theologen, insbesondere bis zum 10. Jahrhundert n. Chr.
Bis zu diesem Zeitpunkt bildeten sich im sunnitischen Bereich vier verschiedene „Rechtsschulen“ – Rechtstraditionen – heraus (die hanbalitische, hanafitische, malikitische und schafiitische Schule) sowie mindestens eine schiitische[4] Schule. Allerdings sind Lehrunterschiede zwischen den Rechtsschulen nicht wirklich fundamental.
Als erste Quelle der Scharia gilt der Koran; seine rechtlichen Regelungen sind Bestandteil der Scharia. Der Koran ist aber nicht als eigentliches Regelwerk aufzufassen, denn nur rund 10% seines Textes befassen sich mit überhaupt mit rechtlichen Fragestellungen, vor allem mit Fallbeispielen.
Die zweite Quelle der Scharia ist die islamische Überlieferung, der „hadith“ (arab. für Überlieferung, Tradition, Bericht) „eine Art von Kommentar und Ergänzung des Koran“[5]. Darunter sind vor allem Berichte von und über Muhammad, seine Familie und seine Prophetengefährten zu verstehen. Neben Berichten über Geschehnisse aus Muhammads Zeiten enthält die Überlieferung zahlreiche Detailanweisungen zur Religionsausübung und behandelt eine Reihe von Rechtsfragen; dieser Umstand ist mit Sicherheit Folge des Auftretens konkreter Rechtsfälle, die an Muhammad und nach seinem Tod an seine Nachfolger herangetragen wurden. Die Befolgung der rechtlichen Bestimmungen der Überlieferung sind theoretisch unbedingte Pflicht für jeden Gläubigen.
Da zudem einzelne Berichte der Überlieferung im Alltag häufiger tradiert werden vielfach besser bekannt sein dürften als der in seiner spezifischen Sprache oft nicht leicht verständliche Korantext, besitzt die Überlieferung in der Praxis größeren Einfluss auf das öffentliche Rechtsbewusstsein. Ergänzend muss erwähnt werden, dass es sich bei „der Überlieferung“ nicht um einen einzelnen Text handelt, sondern – im sunnitischen Bereich – um sechs als autoritativ anerkannte, umfangreiche Sammlungen unterschiedlicher Autoren mit mehreren Zehntausend Einzeltexten zu zahlreichen Themen, die wiederum untereinander Unterschiede, ja sogar Widersprüche in rechtlichen Aussagen erkennen lassen.
Koran und Überlieferung werden jedoch erst durch die Auslegungen muslimischer Theologen anwendbar. Dieser Auslegung ist jedoch hinsichtlich der Meinungsvielfalt nicht einfach Tor und Tür geöffnet. In erster Linie gelten hier die Rechtskompendien maßgeblicher Theologen und Juristen aus frühislamischer Zeit als wegweisend bis in die Moderne.
Da sich schon in den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod der Islam bis nach Spanien und Zentralasien ausdehnte, mussten nicht nur eine funktionierende Verwaltung, sondern auch ein islamisches Rechtssystem möglichst rasch etabliert werden. In den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod war dies jedoch mit Sicherheit nicht der Fall. Es ist daher weithin Konsens, dass bis zum Ende des 8. Jahrhunderts eine islamische Rechtslehre nur rudimentär existierte und in der islamischen Frühzeit daher „nicht von einem einheitlichen sunnitischen Recht“ gesprochen werden kann.[6] Erst bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts war es zu einem Regelwerk mit methodisch definierter Rechtsfindung geworden.[7]
Die Auslegung der Scharia
Die Scharia wurzelt also in der Regelung bestimmter Rechtsfragen einer arabischen Stammesgesellschaft des 7. und 8. Jahrhunderts, die kein verfasstes Staatswesen und kein formales Rechtswesen kannte. Ingesamt ist unser Wissen über die Rechtsvorstellungen und –praktiken dieser vorislamischen Stammesgesellschaft eher gering zu nennen. Was wir wissen, ist, dass die Niederschrift und Entwicklung des islamischen Rechts bis zum Ende des 10. Jahrhunderts zu einem gewissen Stillstand kam: dies geschah durch die Verschriftlichung des Korantexts (etwa in einem Zeitraum vom 7. bis 8. Jahrhundert), der Überlieferung (frühe Schriftfassungen existierten bestenfalls ab dem 8./9. Jahrhundert) und deren Auslegung (ab dem 7. bis zum 10. Jahrhundert).
Einerseits ist also das islamische Recht aus heutiger Sicht ein archaisches Recht, dessen Wurzeln vorislamisch sind.[8] Gleichzeitig ist das Schariarecht nicht wirklich zu einem monolithischen Block erstarrt, weil es in der Praxis jeweils ausgelegt und angewandt, also stets aufs Neue interpretiert werden musste.
Konkret bedeutet das, dass die von Land zu Land recht unterschiedlichen Auffassungen zu Verschleierung, Frauenrechten oder Bildungsmöglichkeiten für Frauen zu einem gewissen Grad Ergebnis unterschiedlicher Auslegungen der Scharia sind, gleichzeitig aber natürlich auch von landesspezifischen Traditionen beeinflusst werden. Frauen- und Menschenrechtsorganisationen versuchen die moralischen Scharianormen durch Interpretation – und damit de facto: Entschärfung – mit der Moderne und westlichen Menschenrechtsvorstellungen zu versöhnen, da eine grundsätzliche, öffentliche Schariakritik nicht möglich ist.
Insgesamt überwiegt im theologischen Diskurs eine sehr konservative bis politische Auslegung der Scharia in Bezug auf Frauen- und Menschenrechte. Aber in der Notwendigkeit der Interpretation der Scharia liegen andererseits Chancen zur Entwicklung von Minderheiten- und Frauenrechten, wenn z. B. die Scheidungsmöglichkeiten in manchen islamisch geprägten Ländern mit Verweis auf eine gerechtere Auslegung der Scharia erweitert oder die Möglichkeiten zur Mehrehe für Männer mit derselben Begründung eingeschränkt wurden. Diese erweiterten Rechte finden aber ihre Grenzen bei der undiskutierbaren Unantastbarkeit der Scharia.
Da die Interpretation der rechtlichen Anweisungen aus Koran und Scharia und ihre Umsetzung in konkrete gesetzliche Bestimmungen z. T. erheblich differieren, existiert keine einheitliche, in Rechtstexte gegossene „Scharia“. Es existiert ein gewisser Grundkorpus an Rechtsvorstellungen, die aus den Texten des Korans und der Überlieferung abgeleitet werden, sowie eine Reihe unterschiedlicher Auslegungen mehrerer Rechtsschulen und die daraus in den einzelnen Ländern gezogenen, unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die konkrete Gesetzgebung vor Ort. Die Scharia ist also kein kodifiziertes Recht, sie ist zu keiner Zeit und an keinem Ort je vollständig zur Anwendung gekommen.
Schariarecht im Bereich des Ehe- und Familienrechts bedeutet konkret eine deutliche rechtliche Benachteiligung von Frauen im Ehe- und Scheidungsrecht (mit erschwertem, beweispflichtigem Scheidungsverfahren vor Gericht sowie die Möglichkeit der Polygamie), im Unterhalts- und Sorgerecht (nur wenige Monate währendes Unterhaltsrecht für die Frau, kein Sorgerecht für die Mutter), im Zeugenrecht (das für die Aussage eines Mannes die Aussage zweier Frauen verlangt), im Erbrecht (das der Frau stets nur ein halbes Erbteil zugesteht) sowie die Gehorsamspflicht für die Frau und das nach klassischer Auslegung weithin anerkannte Züchtigungsrecht durch den Ehemann in Anlehnung an Sure 4,34.
Im Strafrecht bedeutet die volle Anwendung von Schariastrafen die Auspeitschung (z. B. für Unzucht und Verleumdung von Unzucht sowie Alkoholgenuss), die Amputation von Gliedmaßen (etwa im Fall des Diebstahls), die Steinigung für verheiratete Ehebrecher sowie die Anwendung von Vergeltungsstrafen im Fall von Mord oder Totschlag. Allerdings sind nach klassisch-islamischem Recht sehr strenge Beweisverfahren vorgeschrieben, so dass es de facto sehr selten zu gerichtlichen Verurteilungen kommt. In der Praxis kann es jedoch aufgrund von Rechtsbeugung oder Benachteiligung von unterpriviligierten, bildungsschwachen Mitgliedern der Gesellschaft oder Frauen zu willkürlicher Anwendung von Schariastrafen kommen.
Scharia – auch in Deutschland?
Schien die Thematik „Scharia in Deutschland“ noch vor einigen Jahren eigentlich völlig abwegig, wird sie heute intensiv diskutiert und das zu Recht. Immer wieder erheben sich Stimmen, die aus Achtung vor der muslimischen Minderheit in Deutschland eine stärkere Beschäftigung mit der Scharia anmahnen oder sogar eine Prüfung möglicher Kongruenzfelder zwischen den europäischen Verfassungen und herkömmlichen Scharianormen fordern.
Dort, wo das Thema „Scharia in Deutschland“ diskutiert wird, ist allerdings kaum je der strafrechtliche Teil der Scharia gemeint, wird also nicht über eine mögliche Einführung von Amputationen, Auspeitschungen und Steinigungen debattiert. Es geht vor allem um die Einforderung umfangreicherer Rechte für die muslimische Minderheit, um den Bereich des Ehe- und Familienrechts oder auch um eine Ächtung oder ein Verbot jeglicher „Diskriminierung“ des Islam und seiner Anhänger.
In der Diskussion über die Scharia ist es einerseits unangebracht, vor einer bald bevorstehenden ‚Einführung’ der Scharia zu warnen, als sei es eine reale Möglichkeit, dass sie schon morgen in Deutschland das Grundgesetz ablösen könnte. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass politisch-islamische Gruppierungen und Dachverbände den Boden zugunsten einer Akzeptanz der Scharia zu bereiten versuchen. Zunächst geschieht das, indem man die Öffentlichkeit mit dem islamischen Rechtsdenken und den Grundsätzen der islamischen Theologie und Gesellschaftsordnung vertraut macht und Kritik an der Theologie oder Praxis des Islam ächtet. Anlässlich aktueller Tagesereignisse führen manche Aktivisten muslimischer Organisationen an, als Muslime in dieser Gesellschaft nicht ausreichend anerkannt, mit Bauvorhaben oder Bildungsinitiativen nicht genügend staatlich unterstützt und rechtlich nicht mit den christlichen Kirchen gleichgestellt zu sein. Dies bedeute eine Einschränkung von Religionsfreiheit, ja Diskriminierung. Nicht selten wird in diesem Zusammenhang auch der Vorwurf des Rassismus und der Islamophobie erhoben. Und unter Vorgabe vermeintlicher Diskriminierungen werden mit der Behauptung, dass bestimmte Besonderheiten für Muslime aus Glaubensgründen zwingend vorgeschrieben – also Bestandteil der religiösen Gebote der Scharia – seien, vermehrt Sonderrechte für die muslimische Minderheit eingefordert. Der Staat müsse hier in Deutschland durch Ausnahmeregelungen oder Gesetzesänderungen dafür Sorge tragen, dass Muslime z. B. überall rituell geschlachtetes (geschächtetes) Fleisch kaufen können und daher die betäubungslose Schächtung gesetzlich regeln. Die Forderungen einzelner islamischer Gruppen oder Persönlichkeiten sind dabei nicht isoliert, sondern immer im Hinblick auf theologische und politische Entwicklungen in den Heimatländern zu betrachten, denn über die islamisch-politischen Gruppierungen in Deutschland wird versucht, aus den Herkunftsländern heraus auf die muslimische Gemeinschaft Europas Einfluss zu nehmen.
Vielfach wird diese Reklamation der gesamten muslimischen Gemeinschaft durch einzelne Organisationen von der unpolitischen Mehrheit der Muslime in Deutschland abgelehnt, die jedoch in Ermangelung offizieller Sprachrohre und Plattformen für ihre Anliegen oft zur schweigenden Mehrheit wird: sie stellt sich meist nicht explizit gegen diejenigen Sprecher von politisch-muslimischen Organisationen, die die Mehrheit gerne unter ihre politische Agenda vereinnahmen möchte. Daher ist es für den Beobachter oft schwierig, abzuschätzen, welcher Anteil der Muslime in Deutschland heimatliche Scharianormen zugunsten säkular begründeter Rechtsnormen aktiv ablehnen würde.
Eine theologisch-rechtliche Diskussion über die Verbindlichkeiten und Grenzen des Schariarechts in der Diaspora wird innerhalb der muslimischen Gemeinschaft – außerhalb des privaten Bereichs – kaum geführt. Entschieden wird die Diskussion vor allem in der Praxis: Muslime der zweiten und dritten Generation orientieren sich in Deutschland mehr oder – besonders in ihrer Jugend auch – weniger stark an den gesellschaftlichen Traditionen oder rechtlich vorgegebenen Scharianormen, ohne dem Anspruch der Scharia in einem kritischen, öffentlichen Diskurs entgegen zu treten. Dieser Umstand wird von muslimisch-politischen Gruppierungen dahin gehend genutzt, dass man in bestimmten Fragen die gesamte muslimische Gemeinschaft unter dem Anspruch „den Islam“ durchzusetzen zu vereinnahmen versucht.
Eine Strategie ist es, Prozesse in dem Versuch bis vor das Bundesverfassungs- oder Bundesverwaltungsgericht zu führen, die bestehende Rechtsordnung im Namen der Religionsfreiheit auf legale Weise zu verändern oder zumindest die Öffentlichkeit daran zu gewöhnen, dass Muslime in einigen Bereichen anderslautende rechtliche Normen für sich beanspruchen. Politik im Namen des Islam hat in solchen Fällen unmittelbar nichts mit Gewalt zu tun. Der Islamismus jedoch, dem nicht weniger Entschlossenheit attestiert werden kann, macht unter Ausnutzung der gangbaren Wege in einer Demokratie Politik im Namen einer Minderheit.
> Politik im Namen des Islam wird z. B. dort gemacht, wo der Kampf um die Erlaubnis der rituellen, betäubungslosen Schlachtung (Schächtung) von Opfertieren für die islamischen Feiertage geführt wurde: Nachdem sich schließlich alle Überzeugungsarbeit deutscher Tierschützer, dass auch ein per Elektroschock betäubtes Tier vollständig ausbluten könne, als vergeblich erwiesen hatte, wurden Ausnahmereglungen zum Tierschutzgesetz zugelassen.
> Um Politik geht es auch dort, wo muslimische Kinder nicht nur vom Schwimmunterricht, sondern vom gesamten Sportunterricht, ja teilweise sogar vom Biologie-, Musik- oder Kunstunterricht, am häufigsten jedoch von Klassenfahrten abgemeldet werden.
> Unter politischer Lobbyarbeit ist auch der Kampf um das Kopftuch für beamtete Lehrerinnen zu verbuchen, bei der politische Dachverbände die prozessführende erste Antragstellerin durchaus tatkräftig unterstützten.
> Politik im Namen des Islam spielt auch eine Rolle, wenn es um überdimensionierte, repräsentative Moscheebauten, höhere Minarette und den lautsprecherverstärkten Gebetsruf geht, aber auch bei dem Versuch, die Berichterstattung über den Islam in den Medien und seitens der Politik so gut es geht zu lenken und Unerwünschtes (insbesondere kritische Berichte) mit harten Vorwürfen wie dem des Rassismus, der Islamphobie und der Ausländerfeindlichkeit zu bedenken. Dazu gehört auch der immer wieder in verschiedenen Kontexten von muslimischen Sprechern und Aktivisten vorgebrachte Vorwurf, die Stellung und Behandlung der Juden zur Zeit des Nationalsozialismus sei mit der der Muslime in Europa zu vergleichen. Schon in früheren Jahrzehnten, z. B. anlässlich der Forderungen, islamischen Religionsunterricht flächendeckend an Schulen einzuführen, wurde dieser Vorwurf vorgebracht. Zuletzt tauchte er anlässlich des sogenannten „Karikaturenstreits“ im Jahr 2006 auf. Auch der seit Jahrzehnten in Deutschland ansässige ehemalige Leiter des Essener „Zentrums für Türkeistudien“, Faruk Sen, hatte im Mai 2008 in einer türkischen Zeitung geäußert, dass die Muslime hinsichtlich ihrer Diskriminierung und ihres Ausschlusses aus der Gesellschaft die „neuen Juden Europas“ seien.[9] Im Hinblick auf die deutsche Vergangenheit ein wahrhaft ungeheuerlicher Vorwurf, der sich selbst diskreditiert.
Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch die Einführung von sogenannten Schariagerichtshöfen in mehreren europäischen Ländern. Schon 2003 tauchten Berichte über illegal Recht sprechende Schariagerichte aus dem Großraum Mailand in Norditalien auf, die z. B. sexuelle Vergehen und Diebstähle mit Gliederamputationen und Auspeitschungen bestraft haben sollen.[10] Es ist schwer, darüber verlässliche Informationen aufzufinden. In Großbritannien hingegen operieren einige Schariagerichte mit staatlicher Billigung, um zivilrechtliche Fragen wie Scheidung, aber auch häusliche Gewalt oder Streitigkeit um finanzielle Dinge innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zu regeln:[11] „Möglich wurde die Einführung der Scharia-Gerichtsbarkeit durch ein Gesetz über Schiedsgerichte aus dem Jahr 1996. Dort waren Scharia-Gerichte als Schlichtungsgerichte bezeichnet worden. Die Entscheidungen solcher Gerichte sind nach dem Gesetz bindend, wenn die Streitparteien das Gericht für ihren Fall anerkennen. Sheikh Faiz-ul-Aqtab Siddiqi, der Leiter der neuen Scharia-Gerichte, erklärte, man habe diese Lücke ausgenutzt, um die Urteile von Scharia-Gerichten, die ja Schiedsgerichte seien, in das britische Rechtssystem einzuführen. Eine Sonderrechtssprechung gibt es freilich nicht nur für Muslime, seit mehr als 100 Jahren verhandeln auch jüdische Beth din-Gerichte Zivilrechtsverfahren.“[12] Auch Kanada ist an besonders prominenter Stelle im Zusammenhang mit den Schariagerichtshöfen zu nennen: Dort hat die muslimische Frauenrechtsbewegung in den vergangenen Jahren für die Abschaffung dieser religiösen Gerichtsbarkeiten gekämpft.
In Deutschland wird die Diskussion über Schlichtungsräte und Schiedssprüche immer wieder einmal geführt. In bestimmten Fällen kommt in Deutschland schon jetzt Schariarecht zur Anwendung, wenn z. B. im Familienrecht Gerichtsentscheide im Sinne des (islamisch geprägten) Herkunftslandes eines ausländischen Ehepaars und der dortigen Gesetzgebung getroffen werden, sofern die Betroffenen weiter ihre ausländische Staatsbürgerschaft besitzen und die Entscheide nicht der staatlichen Grundrechtsordnung in Deutschland widersprechen.
In Bezug auf die Scharia in Deutschland ist also weder Panik noch Verharmlosung angebracht. Solide Information und Sachkritik sowie eine vertiefte Beschäftigung mit der Materie stehen an erster Stelle, um denjenigen entgegentreten zu können, die eine politisch-islamische Agenda verfolgen und gleichzeitig diejenigen zu unterstützen, die sich für eine vorbehaltlose Anerkennung des deutschen Rechtsstaates und der hiesigen Rechtsnormen einsetzen, die eigene Integration erfolgreich bewältigt haben und den Bildungs- und Integrationsfortschritt ihrer Landsleute und Glaubensgeschwister fördern. In Zeiten des weltweit erstarkenden Islamismus wird die Diskussion und Auseinandersetzung rund um die Scharia nicht von selbst an Deutschland vorüberziehen – sie muss von Fachkundigen geführt, der politische Anspruch der Scharia für Europa abgewehrt und die alleinige Anerkennung hiesigen Rechts begründet verteidigt werden.
[1] “The shari’a is more: it is a code of conduct for all events, walks and ways of life. It deals with proper behaviour in the bathroom as well as the battlefield, on the market as well as in the mosque.” Maurits S. Berger. The Shari’a and Legal Pluralism. The Example of Syria. in: Baudouin Dupret, Maurits Berger, Laila al-Zwaini. Legal Pluralism in the Arab World. Arab and Islamic Laws Series, vol. 18. Kluwer Law International: The Hague, 1999, S. 113-124, hier S. 114
[2] Tilman Nagel. Das islamische Recht. Eine Einführung. WVA-Verlag Skulima: Westhofen, 2001, S. 4
[3] Tilman Nagel. Das islamische Recht. Eine Einführung. WVA-Verlag Skulima: Westhofen, 2001, S. 3
[4]Zur Entwicklung des zwölferschiitischen Rechts s. Harald Löschner, Die Dogmatischen Grundlagen des Shi’itischen Rechts. Erlanger Juristische Abhandlungen Bd. 9, Köln, 1971
[5] Isam Kamel Salem. Islam und Völkerrecht. Das Völkerrecht in der islamischen Weltanschauung. Express Edition: Berlin, 1984, S. 33
[6] Adel El-Baradie. Gottes-Recht und Menschen-Recht. Nomos: Baden-Baden, 1983, S. 75
[7] So auch Wael B. Hallaq. A History of Islamic Legal Theories. An Introduction to Sunni Usul Al-Fiqh. Cambridge University Press: Cambridge, 1997, S. 3
[8] So auch O. Spies; E. Pritsch, Klassisches Islamisches Recht. 1. Wesen des Islamischen Rechts. in: Handbuch der Orientalistik. Abt. 1. Erg.bd. 3. Orientalisches Recht. Leiden, 1964, S. 223
[9] Vgl. etwa den Bericht bei: http://www.faz.net … (14.02.2009)
[10] Vgl. etwa den Bericht unter http://www.wams.de/data/2003/01/05/30213.html (14.02.2009)
[11] S. den Bericht unter http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/crime/article4749183.ece (14.02.2009)
[12] http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/crime/article4749183.ece (14.02.2009)
Quelle: Christlicher Glaube und Islam/Islam and Christianity 1/2010, S. 21–29. PDF-Download