Das Verhältnis von Islam und Demokratie

Welches Verhältnis haben Islam und Demokratie? Warum existieren bis heute unter den islamisch geprägten Staaten so wenige Demokratien? Liegt der Grund darin, dass Islam und Demokratie unvereinbare Gegensätze darstellten? Verbietet der Islam die Einführung demokratischer Systeme?

Diese Frage ist nicht nur für den Nahen Osten und Nordafrika relevant, sondern auch für Europa, wo Muslime seit über 50 Jahren in demokratischen Gesellschaften leben. Die meisten schätzen die dortigen Freiheiten und demokratischen Strukturen, ja ziehen das Leben in westlichen Gesellschaften ihren Herkunftsländern vor.

Unverzichtbare Bestandteile einer Demokratie

Der Terminus „Demokratie“ setzt sich zusammen aus dem griechischen Begriff für „Volk“ (griech.: demos) und „Herrschaft“ (griech.: kratos). Der Höhepunkt der dort entwickelten Demokratie wird meist zu Begin des fünften vorchristlichen Jahrhunderts angesetzt[1] und meinte dort eine unmittelbar vom Volk ausgehende und durch das Volk ausgeübte Herrschaft. Im weiteren Sinne meint der Begriff „Demokratie“ eine Regierung, der nach dem Willen einer Mehrheit durch freie Wahlen an die Macht verholfen wurde und die durch ihren Willensentscheid legitimiert ist. In einer Demokratie ist das Volk eigentlicher Träger der Staatsgewalt, das seine gewählten Vertreter mit der Formulierung einer Verfassung und der Gestaltung eines politischen Systems beauftragt. Demokratien zeichnen sich durch Gewaltenteilung aus, die sich in eine Exekutive (die Regierung), eine Legislative (das Parlament) und eine Judikative (unabhängige Gerichte) gliedert.

Demokratien agieren im Rahmen der geltenden Verfassung, respektieren die dem Bürger sowie einzelnen Gruppen (besonders Religionsgemeinschaften) zugesprochenen Grundrechte wie vor allem die politische und persönliche Meinungs-, Presse-, Religions- und Organisationsfreiheit. Demokratien räumen politischen Oppositionen Existenz- und Handlungsspielräume ein sowie die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung und friedlichen Veränderung der Machtverhältnisse. Von einer Demokratie wird erwartet, dass sie ein rechtsstaatliches System verkörpert, Rechtssicherheit schafft, ihre Vertreter für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden können und diese sich an die geltenden Gesetze halten. Echte Demokratien lassen den Bürgern die freie Wahl zwischen verschiedenen Volksvertretern. Insbesondere räumen sie ihren Bürgern die Möglichkeit ein, eine Regierung durch Mehrheitsentscheidung friedlich abzulösen und durch gleiche, freie, allgemeine und geheime Wahlen durch eine andere ersetzen zu können.

Der Kampf um die „ideale“ islamische Ordnung

Der Korantext gibt keine eindeutige Auskunft über die Frage, welche Herrschaftsform im Islam als ideal betrachtet wird.  Zwar könnte aus dem unhinterfragbaren Vorbild Muhammads als Heerführer, Gesetzgeber und Prophet geschlussfolgert werden, dass die ideale islamische Herrschaft geistliche und weltliche Herrschaft zugleich sein sollte. Vor allem Führer aus dem islamistischen Spektrum wie etwa der bis heute wohl einflussreichste pakistanische Theologe, Autor und Politiker Abu l-A’la Maududi (1903–1979) haben den religiös verfassten Staat als einzig legitime Herrschaftsform propagiert und auf die Umsetzung dieses Ideals mit allen Kräften hingewirkt.

Allerdings handelt es sich bei diesem Gedanken der Einheit von Staat und Religion vor allem um ein in die islamische Geschichte zurückprojiziertes Ideal. In Wirklichkeit musste sich die islamische Gemeinschaft spätestens nach der Regierungszeit der Muhammad nachfolgenden vier Kalifen (regierten 632–661 n. Chr.) in ihrer gesamten Geschichte mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es einen einzigen Herrscher über die Gesamtheit der Muslime und eine Einheit von weltlicher und geistlicher Macht niemals mehr gegeben hat. Realität war vielmehr eine Vielzahl miteinander um die Macht ringender rivalisierender Familien, Dynastien und theologischer Gruppierungen, die sich gegenseitig bekämpften und sich den Herrschaftsanspruch bzw. die Deutungshoheit über den Islam erbittert streitig machten.

Dabei prägten die Auseinandersetzungen innerhalb der islamischen Gemeinschaft nicht nur die Machtpolitik, sondern auch die Theologie: Schon unmittelbar nach Muhammads Tod 632 n. Chr. brach unter seinen Anhängern ein grundsätzlicher theologischer (und machtpolitischer) Streit um seine Nachfolge aus und verfestigte sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr: Spätestens mit dem Jahr 680 n. Chr. – der für die muslimische Gemeinschaft so folgenschweren Entscheidungsschlacht von Kerbela im heutigen Irak – gilt die Gruppierung der Schiiten neben der Mehrheit der Sunniten als fest etabliert und die Gemeinschaft der Muslime als in grundsätzlichen Fragen gespalten.

Sunniten wie Schiiten spalteten sich über die Jahrhunderte hinweg in weitere zahlreiche Gruppierungen und Untergruppierungen auf. Während das Kalifat unter den vier ersten Nachfolgern Muhammads bis zum Jahr 661 n. Chr. noch eine gewisse Einheit des Islam repräsentiert hatte, wurde in späteren Jahrhunderten die immer stärkere konfessionelle und machtpolitische Spaltung Realität: Es regierten Kalifen und Gegenkalifen, regionale Dynastien und politisch zeitweise erfolgreiche häretische Bewegungen (wie die der ismailitischen Fatimiden), bis es durch den Einfall der Mongolen 1258 in Bagdad zum dramatischen Untergang des eigentlichen abbasidischen Kalifats kam. Danach regierten die – von arabischen Gelehrten niemals als legitime islamische Herrscher anerkannten – aus Zentralasien in die heutige Türkei eingewanderten und erst im Laufe dieses Prozesses zum Islam konvertierten Turkstämme als osmanische Sultane vom 13. Jahrhundert bis zur Gründung der Türkischen Republik 1923/24 Teile des Vorderen Orients, des Balkans und der Arabischen Halbinsel. Von einer Einheit von weltlicher und religiöser Herrschaft oder auch nur von einer Einheit in der Frage, wer berechtigt ist, die gesamte Gemeinschaft der Muslime zu regieren oder auch nur zu repräsentieren, kann jedoch vom ersten islamischen Jahrhundert an nicht mehr die Rede sein.

Islam und Demokratie damals und heute

Zur „Wiederfindung“ der Demokratie im Islam weisen muslimische Wortführer heute immer wieder darauf hin, dass schon der Koran eine Beratung des Herrschers befürworte, also die Einbeziehung mehrerer Stimmen in politische Entscheidungsprozesse. Zumeist werden für diese Sichtweise Sure 3,159 und 42,38 angeführt; beides Verse, die empfehlen, dass sich die gläubigen Muslime untereinander „beraten“ sollen. Der Begriff „beraten“, der im Koran im Arabischen in den beiden genannten Versen Verwendung findet, besitzt dieselbe Wurzel wie der heute im politisch-islamischen Bereich oft verwendete Terminus der „Shura“ („Beratung“), die aus islamisch-apologetischer Sicht als eine Art „islamische Demokratie“ im Laufe der islamischen Geschichte etabliert worden sein soll.

Es ist zwar richtig, dass in der Geschichte des Islam, wie von Apologeten häufig angeführt, die ersten vier Kalifen nach Muhammad aus einer Wahl hervorgingen; aber schon die Dynastie der Umayyaden machte das Kalifat ab dem Jahr 661 n. Chr. erblich. Sicher hat sich, wie die islamische Geschichtsschreibung erläutert, auch Muhammad mit seinen Vertrauten über Kriegszüge und Friedensschlüsse beraten. Realistisch betrachtet sind jedoch weder in der islamischen Geschichte noch in der Gegenwart – zumindest in arabischen Ländern – Elemente einer Demokratie nach oben beschriebener Definition nachweisbar, ja, nicht einmal die Macht wirksam kontrollierender Gremien, die einem westlich-demokratischen Parlament auch nur annähernd vergleichbar wären. Zwar tragen die Konsultativgremien einiger Länder, insbesondere in den Golfstaaten, den Titel „majlis ash-shura“ (Konsultativrat; beratendes Gremium); dennoch sind gerade die Golfmonarchien absolute Monarchien, in deren „Beratergremien“ die einflussreichen Familien des Landes Vertreter entsenden. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Gremien die absolute Macht der Herrscherfamilie begrenzen, kontrollieren, den Herrscher bei Rechtsverstößen zur Verantwortung ziehen oder sogar absetzen könnten.

Genau um diese Forderungen ging es den Menschen bei den Arabischen Revolutionen. Ihr wichtigste Anliegen war der Wunsch nach Befreiung von der allgegenwärtigen Unterdrückung durch die korrupten Regime der arabischen Länder. Fehlende Freiheitsrechte und Perspektivlosigkeit (vor allem für die Jugend), wirtschaftliche Unter- und Fehlentwicklungen, eine allgegenwärtige Korruption und Unterdrückung waren wichtige Motoren der Revolutionen. Können heute nun die gewählten islamisch definierten Regierungen Demokratien etablieren?

„Der Islam“ als private Religionsausübung oder ethisches Wertegerüst wird einer Demokratie kaum entgegenstehen. Allerdings gilt das nur in Bezug auf den Islam als persönlicher Glaube, nicht in Bezug auf den Islam als Rechtssystem, das Gesetze, Werte und Normen bestimmt. Wo das Schariarecht Gesetz, Gesellschaftsordnung und Rechtsprechung prägt, wird es keine umfangreichen Freiheitsrechte im Sinne der UN-Menschenrechtscharta von 1948 geben, denn das Schariarecht kann in seinem klassischen Verständnis weder Männern und Frauen noch Muslimen und Nichtmuslimen noch Religionswechslern oder Atheisten Gleichberechtigung einräumen.

Demokratie und Schariarecht

Das Zivilrecht – also das Ehe-, Familien- und Erbrecht – in arabischen Ländern ist grundsätzlich am Schariarecht ausgerichtet, dh., es existiert dort kein säkulares Zivilrecht. Frauen sind dementsprechend rechtlich benachteiligt, Konvertiten und Minderheiten diskriminiert und benachteiligt. Es ist daher wohl nicht zu erwarten, dass sich eine grundlegende und umfassende Verbesserung der Frauen- und Menschenrechtssituation ergeben, so lange der gesellschaftliche Anspruch des Schariarechts nicht zur Disposition gestellt wird. Oder wie es Bassam Tibi formuliert: „Das bedeutet, dass es ohne eine radikale Religions- und Rechtsreform im Islam, für die aufgeklärte Muslime wie etwa der sudanesische Jurist Abdullahi An-Na’im eintreten, keine Synthese von Islam und Menschenrechten geben wird.“[2]

So lange eine möglichst getreue Nachahmung der arabischen Gesellschaft des 7. Jahrhunderts n. Chr. von theologisch oder sogar politisch einflussreicher Stelle als gleichbedeutend betrachtet wird mit Gerechtigkeit, Fortschritt und wahrer Zivilisation, so lange ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Ansprüchen des Schariarechts wohl kaum zu erwarten. „Von diesem religiösen Standpunkt aus erscheint die Moderne als Verlust und Rückfall, da sie die eigentlichen Ursprünge und deren Prämissen hinter sich läßt.“[3]

Positionen islamischer Intellektueller zur Demokratie heute

Heute finden sich unter muslimischen Theologen und Intellektuellen im Wesentlichen drei Positionen zur Demokratie: a. Eine gänzlich ablehnende Haltung, b. Eine vordergründig zustimmende Positionierung. Sie ersetzt jedoch Teile der Demokratie durch islamische Prinzipien und misst die Demokratie an den Maßstäben des islamischen Rechts. c. Eine vollends befürwortende Position. Sie beschränkt sich allerdings bis heute auf Intellektuelle, Theologen, Philosophen, Journalisten und Regimekritiker, die vor allem in westlichen Ländern lehren und leben.

a) Abu l-A’la Maududi (1903–1979): Nein zur Demokratie

Einer der prominentesten muslimischen Theologen, die die Demokratie grundsätzlich ablehnen, war Abu l-A‘la Maududi (1903–1979), Intellektueller, Ideologe, Buchautor von über 130 eigenen Werken, Verfasser eines einflussreichen Korankommentars, politischer Aktivist und Berater mehrerer pakistanischer Regierungen, der mit seinen Schriften über die „Theo-Demokratie“ und die „Herrschaft Gottes“ maßgeblich Einfluss auf den arabischen und iranischen Islamismus nahm. Maududi gilt als prominentester Vordenker eines islamisch begründeten Staatswesens, das allein auf der Herrschaft Gottes beruht und jegliche von Menschen verantwortete Staatslenkung verwirft. Sie verpflichtet jede Regierung, als deren Stellvertreter zu handeln, alle bestehenden Gesetze in Übereinstimmung mit der Scharia zu bringen, jedwede anderen Gesetze abzuschaffen bzw. nicht zu erlassen und die Rechtsprechung ausschließlich auf Schariarecht zu gründen.

Den Islam versteht Maududi als ganzheitliches System, das den Menschen auf den Weg des Glaubens, auf den Weg einer friedlichen Gesellschaftsordnung sowie auf den Pfad der gerechten staatlichen Gesetzgebung leitet. Diese Gesetzgebung ist der Scharia zu entnehmen, so dass durch ihre vollständige Umsetzung von selbst ein allen anderen Systemen überlegenes Gemeinwesen entsteht.[4]

Umgesetzt wird dieser ganzheitliche Islam mit Hilfe einer Avantgarde wahrhaft gläubiger Muslime, an deren Spitze ein männliches, muslimisches, erwachsenes, geistig gesundes Mitglied der islamischen Gemeinschaft als Führer (arab.: amir) steht, der Staatslenker. Er und sein Beratergremium werden „gewählt“, daher handelt es sich bei diesem Staatsmodell nach Maududis Auffassung letztlich um ein demokratisches System, das jedoch Gottes Gesetz zur Anwendung bringt. Daher nennt Maududi seine Staatsform „Theo-Demokratie“ oder „demokratisches Kalifat“, da die Führungsspitze (von besonders ausgewählten Getreuen) gewählt wird und durch das Volk den Auftrag erhält, den Staat von Grund auf zu islamisieren.[5]

b) Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926): Jein zur Demokratie

Der in Ägypten geborene, seit über 50 Jahren im qatarischen Exil lebende, heute wohl berühmteste und als Meinungsführer überaus einflussreiche islamische Theologe Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926), der rund 120 Bücher veröffentlichte, zahllose Fatawa (Rechtsgutachten), Artikel und Predigten und Vorsitzender mehrere Dachorganisationen muslimischer Gelehrter in Europa ist und regelmäßig in Fernsehsendungen des qatarischen Senders al-Jazeera auftritt, gilt heute als einer der wichtigsten Vertreter des islamischen „Minderheitenrechts“, das die Demokratie in Bezug auf ihre Vorteile nutzen möchte, etwa zur freien Propagierung des Islam, aber sie nicht als solche akzeptiert.

al-Qaradawi plädiert dafür, dass Muslime sich in einer Minderheitssituation  – wie in Europa – zeitweise an das in der Diaspora geltende Recht anpassen dürfen oder sogar sollen und für die Zeit des Übergangs, bis dort die Scharia in vollem Umfang eingeführt ist, vorübergehend nicht alle Gebote des Islam beachten müssen. Aufgrund dessen ist es erlaubt, das Schariarecht den Erfordernissen des Lebens entsprechend in nicht-islamischen Gesellschaften auszulegen und sich in Einzelfällen, in denen die Umsetzung des Schariarechts derzeit nicht möglich ist, vorübergehend Erleichterungen zu erlauben.

Das Ziel eines derartigen Minderheitsrechts ist nicht die Integration der muslimischen Migranten in die europäischen Gesellschaften; vielmehr verpflichtet es in umgekehrten Sinne Muslime dazu, in Europa die dauerhaft Anderen zu sein, die der letztlichen Umsetzung der Scharia verpflichtet sind. Es überrascht daher nicht, dass al-Qaradawi, der für eine volle Anwendung der Schariagesetzgebung einschließlich der Anwendung der Körperstrafen votiert, auch die Todesstrafe für den sich offen bekennenden Konvertiten oder Religionslosen proklamiert, Ehemännern die Züchtigung ihrer ungehorsamen Ehefrauen empfiehlt, zu Selbstmordattentaten in Israel aufruft und keine Gleichheitsrechte für Frauen und Nichtmuslime vorsieht.[6]

Was die Wirkung solcher prominenter Meinungsführer betrifft, sollte man sich keine Illusionen machen: Nie war sie größer als heute, in Zeiten des Internets. Wenn mehrere, über viele Jahre unabhängig voneinander erhobene Studien ergeben, dass zwischen 45 % und 49 % aller Muslime in Deutschland zwischen Islam und Demokratie einen Gegensatz erkennen, bzw. dass „die Befolgung der Gebote meiner Religion … für mich wichtiger (ist) als Demokratie“,[7] dann ist das auch auf den Einfluss solcher warnenden Stimmen zurückzuführen, sich nicht auf die westlichen Gesellschaften einzulassen, weil dies „unislamisch“ sei. Ihnen wird von den Gelehrten vermittelt, sie müssten sich zwischen dem ganzheitlich umgesetzten Glauben und dem Lager des Feindes entscheiden. Vertreten sie einen gemäßigteren Islam und bejahen die Demokratie und ihre Freiheitsrechte, werden sie von Gelehrten wie al-Qaradawi als Verräter am Islam verurteilt.

c) Mohammed Shabestari (geb. 1936): Ja zur Demokratie

Mohammed Shabestari ist einer der muslimischen Vordenker in Sachen Menschen- und Freiheitsrechten. Er ist ein iranischer Theologe, Philosoph, Reformer und Verfechter von Demokratie, Menschenrechten, Gleichberechtigung der Religionen und Meinungsfreiheit. Er betrachtet Menschenrechte und Demokratie grundsätzlich als von Menschen ersonnene Größen, über die der Koran gar keine Aussagen mache. Daher widersprächen weder Demokratie noch Menschenrechte dem Islam. Im Gegenteil, beide sind für Shabestari mit dem Islam kompatibel, denn sie seien Produkte der Vernunft: Demokratie und Menschenrechte seien lediglich zeitgenössische Umsetzungen der im Koran niedergelegten Prinzipien einer gerechten Herrschaft auf Erden.

Shabestari relativiert die zeitlos gültige Herrschaft der Schariavorschriften, indem er zum einen die Willensfreiheit des Menschen und die Notwendigkeit eines freiwilligen Glaubens betont. „Freiheit und Gleichheit“ sieht er in einer Demokratie verwirklicht.[8] Sodann hinterfragt er die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis einer absoluten Wahrheit und relativiert die Verbindlichkeit der Umsetzung aller Anweisungen aus den religiösen Texten, indem er schlussfolgert, dass sie in wörtlicher Hinsicht nur zur Zeit ihrer Offenbarung gegolten hätten. Der „Kern der göttlichen Botschaft“ gilt für ihn ewig, nicht jedoch ihre damalige gesellschaftliche Umsetzung.[9]

Es wird deutlich, dass Shabestaris Ansatz keine konkrete positive Begründung für Menschen-, Frauen- und Freiheitsrechte aus den Texten des Islam herbeibringen bzw. die Anweisungen aus Koran und Überlieferung zum Kampf gegen Ungläubige oder Apostaten oder die Benachteiligung von Frauen nicht wirksam außer Kraft setzen kann. Shabestari führt zwar das hermeneutische Prinzip der Vernunft und der historisierenden Textbetrachtung ein, erläutert aber weder das ihm zugrunde liegende übergeordnete Prinzip, nachdem die einen Texte für ihn noch voll gültig sind, die anderen jedoch in die Geschichte verwiesen werden noch erklärt er, welche Texte zu welchen Kategorien gehören. Damit hat er letztlich seine eigene Hermeneutik als Filter vor das herkömmliche Textverständnis geschaltet. – Dennoch ist sehr zu bedauern, dass Vertreter solcher Auffassungen bisher nicht in den einflussreichen Moscheen und Universitäten, sondern meist in westlichen Ländern lehren und den theologischen Diskurs in den arabischen Ländern bisher kaum beeinflussen.

Fazit

Demokratie entsteht nicht einfach von selbst, sie benötigen einen ideellen Untergrund, um wachsen und gedeihen zu können. Sie brauchen weltanschauliche Begründungen, die auf übergeordneten, von einer Mehrheit anerkannten weltanschaulichen Grundlagen basieren und aus diesen heraus erklärt werden können. Angesichts einer in islamisch geprägten Ländern – bei aller Unterschiedlichkeit in der religiösen Bindung und Praxis der Einzelnen – insgesamt starken Identifikation mit der Religion und den religiösen Werten des Islam kommt der islamischen Theologie eine Schlüsselrolle dabei zu, eine Versöhnung der klassischen islamischen Theologie mit Menschen-, Frauen- und Freiheitsrechten (inklusive der Religionsfreiheit) zu finden – sonst wird es auf Dauer wohl kaum möglich sein, stabile demokratische Strukturen in dieser Region zu schaffen. Das Vorbild der Türkei allein reicht nicht aus, solange man das Grundprinzip der Laizität des türkischen Staates weit von sich weist.

Soll sich die Region entwickeln, braucht es die Schaffung vieler Arbeits- und Ausbildungsplätze, eines funktionierenden Bildungssystems, Anreize zu Investitionen und Unternehmertum sowie Rechtssicherheit und die Garantie von Freiheitsrechten. Das alles braucht eine weltanschauliche Begründung, einen ideengeschichtlichen Überbau, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung wiederfindet.

Darüberhinaus braucht es nicht nur Freiheitsrechte, es sind auch wirtschaftliche Entwicklungen dringend nötig. Denn ohne gerechte Verteilung des Ölreichtums bzw. eine Entwicklung der Region wird es kaum möglich sein, Demokratien zu etablieren. Kommt es zu einer weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen einer breiten Bevölkerungsmehrheit, kann der Islamismus durchaus weiter an Boden gewinnen. Den Menschen dieser Region sind vermehrte Freiheitsrechte und wirtschaftliche Entwicklungen dringend zu wünschen – die grundsätzliche Begründung vermehrter Freiheitsrechte bzw. die Suche nach einer die Mehrheit verbindenden ideengeschichtlichen Herleitung dieser Freiheitsrechte hat jedoch noch nicht einmal begonnen.

Ausführlicher zum Thema s. die Neuerscheinung:

Christine Schirrmacher. Islam und Demokratie – ein Gegensatz? SCM Hänssler: Holzgerlingen, 2013


[1] So etwa auch von Thomas Meyer. Was ist Demokratie? Eine diskursive Einführung. VS: Wiesbaden, 2009, S. 16.

[2] Bassam Tibi. Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte. Piper: München, 1996, S. 45.

[3] Adonis. Die Sackgasse der Moderne in der arabischen Gesellschaft. in: Erdmute Heller; Hassouna Mosbahi (Hg.). Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antworten arabischer Denker. C. H. Beck: München, 1998, S. 62–71, hier S. 69.

[4] Vgl. dazu besonders Maududis politische Ethik: S. Abu A’la Mawdudi. The Islamic Law and Constitution. Islamic Publications Ltd.: Lahore, 1955/19807, S. 123ff.

[5] Vgl. etwa Maududis Ausführungen über das „Moralische System des Islam“ in seinem Werk: Sayyid Abul A‘la Maududi. Islamic Way of Life. Islamic Publications Ltd.: Lahore, 1950/19653/1986, S. 31ff.

[6] Vgl. etwa sein einflussreichstes Buch: Jusuf al-Qaradawi. Erlaubtes und Verbotenes im Islam. SKD Bavaria: München, 1989.

[7] Laut der Studie „Muslime in Deutschland“ von 2007 stimmen 46,7 % „eher“ oder „völlig zu“, dass „die Befolgung der Gebote meiner Religion … für mich wichtiger (ist) als Demokratie“: Katrin Brettfeld; Peter Wetzels. Muslime in Deutschland. Eine Studie des Bundesinnenministeriums zu Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Universität Hamburg: Hamburg, 2007, S. 141.

[8] Vgl. etwa seinen Text: Mohammad Mojtahed Shabestari. Demokratie und Religiosität. In: Katajun Amirpur. Unterwegs zu einem anderen Islam. Texte iranischer Denker. Herder: Freiburg, 2009, S. 25–36, hier S. 28.

[9] Roman Seidel. Porträt Shabestari. Glaube, Freiheit und Vernunft. URL: http://de.qantara.de/Glaube-Freiheit-und-Vernunft/3240c3334i1p396/ (13.10.2012).

Quelle: „Das Verhältnis von Islam und Demokratie“. Islam und christlicher Glaube / Islam and Christianity 13 (2013) 1: 5–12.