Joachim Wagner hat kein reißerisches Buch[1] geschrieben. Nüchtern und sachlich analysiert der promovierte Volljurist, wie sich islamische Friedensrichter als Schlichtungs- und Vermittlungsinstanzen zwischen deutschem Staat und muslimischen Straftätern etablieren. Ziel ihrer Intervention ist es, zwischen zwei verfeindeten Familien einen Konflikt zu schlichten und dabei eine strafrechtliche Verfolgung durch die deutsche Justiz möglichst zu verhindern. Mit Hilfe der Institution des Streitschlichters werden Zivil- und Strafrechtsfälle innerhalb der islamischen Gemeinschaft geregelt und Recht gesprochen. Diese Rechtsprechung geh nicht nur am deutschen Staat vorbei, sondern steht in vielen Fällen in eklatantem Gegensatz zu dessen Rechtsordnung. Das gilt besonders dort, wo es bei der Schlichtung nicht vor allem um eine kulturell angepasste Form der zivilrechtlichen Mediation geht – wie etwa bei einem Familienstreit – oder um die Schlichtung von Nachbarschaftskonflikten, sondern um Scheidungsfragen oder um schwere Körperverletzung, ja, sogar manchmal um Mord und Totschlag.
Dabei treten die Schlichter, wie Wagner erläutert, aus der muslimischen Gemeinschaft meist dann auf den Plan, wenn ein Konflikt bereits eskaliert ist, wenn also etwa von einzelnen Familien versucht wurde, ausstehende Schulden durch Drohungen oder Körperverletzung, Entführung oder Folter einzutreiben oder einen Betrüger (z. B. im Gebrauchtwagengeschäft) zur Rücknahme seiner Ware zu veranlassen. Gibt die andere Seite nicht nach, droht ihr schwere Vergeltung oder sogar Blutrache. Oberstes Ziel der Vermittlung ist es daher, diese Eskalation zu verhindern, Täter und Opfer zu befrieden, die wirtschaftlichen Interessen der Täterfamilie zu wahren, Blutrache möglichst zu vermeiden, aber auch, die Polizei fernzuhalten und das staatliche Strafmonopol mithilfe von Manipulation, Falschaussagen oder Aussageverweigerung zu unterlaufen. Hieraus wird ersichtlich, dass die Paralleljustiz nicht mit dem Schiedsspruch des Vermittlers beginnt, sondern schon bei der Einstellung der Betroffenen, die Drohung und Einschüchterung, aber auch Gewaltanwendung und ein Fernhalten oder sogar eine Irreführung deutscher Rechtsvertreter als legitime Mittel betrachten, um ihre eigene Rechtsordnung durchzusetzen.
„Gerechtigkeit“ ist das wichtigste Prinzip der Streitschlichtung
Bei ihrer Streitschlichtung, so Wagner, legen islamische Friedensrichter ihr Hauptaugenmerk nicht darauf, den Schuldigen zu identifizieren und zu bestrafen, sondern einen in ihren Augen „gerechten“ Ausgleich zwischen zwei Kontrahenten zu suchen, so dass die verfeindeten Parteien keine weitere Gewalt mehr gegeneinander einsetzen. Bevorzugt wird diese Art der Schlichtung von vielen muslimischen Familien, weil dort, wie Wagner erläutert, eine Anzeige bei der Polizei häufig als Ausdruck der Ehrlosigkeit, Schwäche und Feigheit betrachtet wird. Wer in einer nahöstlichen Gesellschaft Unrecht gegen seine Person und Familie nicht sühnt, gilt nicht als friedfertig, sondern wird als wehrlos und schwach verachtet, so dass man ihm bei nächster Gelegenheit weiteres Unrecht zufügen wird. Durch die Vermittlung des Friedensrichters und die Annahme seines Schiedsspruches können dagegen beide Parteien ihr Gesicht wahren und sich auf der Straße wieder begegnen, ohne dass eine „offene Rechnung“ den Einsatz von Gewalt „erfordern“ würde.
Wagners Untersuchung ist kein platter Alarmismus und kein Pamphlet gegen „den Islam“ oder „die Muslime“ und ihre kulturellen Werte und Normen. Sie ist eine mit vielen praktischen Beispielen versehene differenzierte Analyse, die ein erhellendes Licht auf die hierzulande noch wenig bekannte Institution der muslimischen Streitschlichter wirft, die vorwiegend im Verborgenen und meist ohne Wissen der betroffenen Staatsanwälte und Richter eingesetzt wird.
Das staatliche Gewaltmonopol wird unterlaufen
Problematisch ist bei dieser Form der Streitschlichtung nicht nur, dass muslimische Friedensrichter weder ein staatliches Mandat noch eine juristische Vorbildung besitzen, um Konflikte nach geltendem Recht beilegen zu können: Sie regeln vielmehr die ihnen von den betroffenen Familien übertragenen Fälle nach ihren eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, d. h., gemäß ihres persönlichen Rechtsempfindens, ihrer Autorität und ihres Einflusses bzw. der Stellung ihrer Familie oder Sippe. Ihre „Gerichtssäle“ sind nicht das Amts- oder Oberlandesgericht, sondern Moscheen und Kulturvereine, Teestuben, Clubs oder auch Privatwohnungen.
Problematisch ist bei dieser Form der Streitschlichtung ebenso, dass die Schlichter durch die Regelung strafrechtlicher Belange das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen und dabei oft gleichzeitig eigene finanzielle Interessen im Drogen- oder Rotlichtmilieu verfolgen; nicht selten sind Streitschichter Führungsfiguren der organisierten Kriminalität. Problematisch ist selbstverständlich auch, dass es hier nicht um ein rechtsstaatliches Mediationsverfahren handelt, sondern um das Machtdiktat eines Stärkeren, dessen Schiedsspruch der Schwächere akzeptieren muss oder sich andernfalls mit einer Reihe von Gewalttaten gegen sich und seine Familienmitglieder konfrontiert sehen wird, also de facto keine Wahl hat und sich gegen das „Urteil“ nicht zur Wehr setzen kann. Da sich in Teilen der muslimischen Gemeinschaft die Rückzugs- und Abschottungstendenzen von der deutschen Gesellschaft eher verstärkt haben, scheinen nach Meinung mancher Experten auch die Aktivitäten der Friedensrichter heute eher zu- als abzunehmen. Bedenklich stimmt in diesem Zusammenhang die von Betroffenen heute deutlich häufiger wahrgenommene Respektlosigkeit gegenüber Polizei und Justiz, die sich in Übergriffen, Pöbeleien, Drohungen oder in einigen dokumentierten Fällen sogar in der Belagerung von Polizeistationen und Brandstiftung äußert.
Warum wird diese Art der extra-legalen Rechtssprechung der Friedensrichter in Deutschland geduldet? Da ist einmal, wie Wagner konstatiert, die häufige Arbeitsüberlastung, aber auch die Interesselosigkeit mancher Richter und Staatsanwälte, die sie bei plötzlicher Änderung früher protokollierter Aussagen oder akutem „Gedächtnisverlust“ bei ihren Zeugen die Hintergründe nicht immer im ausreichenden Maß erforschen lässt. 90% der außergerichtlichen Einigungen, so schätzt Wagner, werden getroffen, ohne dass die Ermittlungsbehörden überhaupt davon wissen. Vor allem aber ist das Handeln der Friedensrichter möglich, weil sich in vielen Fällen die Wahrheit mit rechtsstaatlichen Mitteln nicht eindeutig beweisen lässt, wenn Täter, Opfer und sämtliche Zeugen ihre Aussagen miteinander absprechen oder sich konsequent „nicht erinnern“ können. So werden beteiligte Zeugen von den vorgeschickten Friedensrichtern manipuliert und eingeschüchtert, Körperverletzungen mit Geldzahlungen gesühnt oder Schweigegelder bezahlt. Wenn etwa ein Opfer im ersten Schock nach einem tätlichen Angriff im Krankenhaus eine Anzeige erstattet und diese später, nach Einmischung der Friedensrichter und unter Druck der Gegenpartei, diese wieder zurückziehen oder die Aussage massiv verändern möchte, müsste das für die beteiligten Behörden höchstes Alarmzeichen sein.
Unterhändler des Rechts: Teilweise staatlich etabliert oder anerkannt
Aufschlussreich ist an dieser Stelle Wagners Beobachtung, dass außerhalb Europas westliche Staaten nicht nur diese Art der Streitschlichtung dulden, sondern diese Institution selbst nutzen, wenn sie Delinquenten etwa durch die Zahlung von Blutgeld der Bestrafung vor Ort enziehen wollen: So wurde der CIA-Agent Raymond Davis, der 2011 in Lahore zwei pakistanische Staatsbürger erschossen hatte, von der US-amerikanischen Regierung gegen die Zahlung von 2,3 Mio. US$ an die Familien der Opfer aus der Haft entlassen. Auch nach der unbeabsichtigten Tötung einer Frau und zweier Kinder an einer Straßensperre in Afghanistan wurde durch das Bundesverteidigungsministerium Blutgeld an die betroffenen Familien bezahlt, um die Bundeswehr vor Racheakten zu schützen.
In Deutschland ist die Handlungsweise vieler Friedensrichter nicht in jedem Fall als gegen den Staat gerichtet zu entlarven. Viele behaupten nämlich, dass sie nur kleinere Streitigkeiten regeln, aber selbst die Polizei einschalten, wenn es um schwere Körperverletzung und Tötungsdelikte geht. Wagner beschreibt jedoch auch einige Fälle, in denen Schlichter versuchen, einerseits mit der Polizei und andererseits mit den Betroffenen verhandeln. Sie bleiben in die Verfahren involviert, indem sie hinter den Kulissen eine Übereinkunft zwischen Opfern und Täter herstellen und Zeugenaussagen manipulieren, obwohl die Polizei gleichzeitig ermittelt. Treffen die Ermittlungen der Polizei in so einem Fall auf eine Mauer des Schweigens, bieten sich Friedensrichter der Polizei häufig als sprach- und kulturkundige Vermittler an, versuchen dabei aber gleichzeitig, Informationen von der Polizei zu erhalten, die sie wiederum für Ihre Klientel nutzen. Teilweise bewegen sich die Friedensrichter damit auf schmalem Grat zur Strafvereitelung. Manchmal erhalten sie oder ihre Klientel dabei sogar Schützenhilfe von Verteidigern, die, so konstatiert Wagner, teilweise gut an muslimischen Intensivtäter-Familien verdienen. Offiziell werden Friedensrichter nicht bezahlt, die Annahme von Geschenken scheint aber üblich.
In anderen Fällen werden manchmal noch kurz vor Prozessbeginn Ehen geschlossen, um das Aussageverweigerungsrecht in Anspruch nehmen zu können. Andere „Lösungsmechanismen“ sind Familienabsprachen, wer sich nach einem Gewaltdelikt der Polizei als Täter präsentiert. Häufig wird derjenige Sohn bestimmt, der gegenwärtig keine Bewährungsauflagen zu erfüllen oder als Jüngster die geringste Strafe zu erwarten hat. Teilweise erscheinen Jugendliche gar nicht mehr zur polizeilichen Vernehmung, nachdem sie sich mit dem Friedensrichter geeinigt haben, was die aus ihrer Sicht offensichtliche Bedeutungslosigkeit der deutschen Justiz eklatant deutlich macht.
Aufgrund der Doppelrolle der Streitschlichter als Vermittler und Unterhändler, so Wagner, lehnen manche behördlichen Ermittler eine Zusammenarbeit mit Friedensrichtern grundsätzlich ab. Andere befürworten sie, weil dadurch zumindest eine Art Waffenstillstand zwischen verfeindeten Familien erreicht und eine weitere Eskalation der Konflikte vermieden wird. So werden teilweise unter Einbeziehung der Polizei mit Familienoberhäuptern verfeindeter Sippen in Moscheen Friedensverträge unterzeichnet, wodurch Gesichtswahrung und Gewaltvermeidung erreicht wird.
Wer Wagners Studie gelesen hat, kann sich kaum vorstellen, dass mit der Einrichtung von Schariagerichtshöfen – also einer staatlich anerkannten und finanzierten Einrichtung von zivilrechtlichen Schlichtungsinstanzen für Muslime, die verschiedentlich politisch diskutiert wurden – die Distanz zum deutschen Rechtsstaat nicht noch größer würde, zumal die Mehrheit der muslimischen Migranten aus der Türkei aus einem Land stammt, das die Scharia 1926 grundsätzlich abgeschafft hat, am Schariarecht ausgerichtete Schiedssprüche bei ihnen also quasi an der falschen Adresse wären. Joachim Wagner plädiert daher vielmehr dafür, um das staatliche Gewaltmonopol nicht de facto aufzugeben, die Paralleljustiz der Friedensrichter nicht unkommentiert hinzunehmen – indem mindestens punktuell demonstriert wird, dass der Rechtsstaat am längeren Hebel sitzt.
Dazu würde beispielsweise gehören, bei Verdacht auf Falschaussage Zeugen konsequent mit einer Anzeige wegen Meineid zu bedrohen und eine zügige richterliche Vernehmung der Tatverdächtigen durchzuführen, solange noch keine Absprachen getroffen sind, ja, zur Not auch gegen Friedensrichter wegen Strafvereitelung zu ermitteln. Kurz: Wagner plädiert nachdrücklich dafür, dass der Staat angesichts dieser „Schattenjustiz“ das Heft des Handelns vermehrt in die Hand nimmt, nicht ohne darauf zu verweisen, dass die Existenz der Friedensrichter auch ein Anzeichen mangelhafter Integration ist, die nur mit einer verstärkten Zusammenarbeit von Polizei, Ausländer- Steuer-, und Sozialbehörden erreichbar scheint. Fördern und fordern, oder, wie Wagner formuliert, „Chancen bieten, Grenzen setzen“, von der Kita an, ist für ihn ein Muss, um nicht nur die Institution der Friedensrichter isoliert zu bekämpfen. Weil Paralleljustiz vor allem in den Köpfen der Beteiligten beginnt, würde ein „Abschaffen“ der Friedensrichter allein die bestehende Problematik nicht beseitigen.
Ein mutiges, ernüchterndes und dennoch gut lesbares Buch, dem man nicht nur viel Aufmerksamkeit und weite Verbreitung bei Behörden, Verantwortungsträgern und in Kreisen der Justiz wünscht, sondern auch, dass es eine gesellschaftlich-politische scheuklappenfreie Debatte über Erreichtes und Nicht-Erreichtes im Prozess der Integration anstößt. – Soweit Wagners Studie.
Verwurzelung im islamischen Recht und in der Tradition
All denjenigen, die an dieser Stelle abwiegeln und nur die Vorteile der kulturinternen Vermittlung erkennen möchten, muss erstens gesagt werden, dass es sich bei der Institution der Friedensrichter nicht nur um ein kulturelles Phänomen der islamisch geprägten Gesellschaften des Nahen Ostens handelt. Es geht auch um die vorsätzliche Ablehnung der Zuständigkeit des deutschen Rechts und der deutschen Justiz sowie um eine Erklärung, die eigenen Belange lieber innerhalb der eigenen Gemeinschaft, nach traditionellem Recht regeln zu wollen, selbst wenn dabei geltendes Recht verletzt wird. Die Instanz der Vermittler hat insofern Verbindung zum klassischen Schariarecht, als dass nach traditioneller Rechtsauffassung über Muslime Recht prinzipiell nur von Muslimen gesprochen werden sollte, nie aber von Nicht-Muslimen. So war der Beruf des Richters in islamisch geprägten Ländern meist nur Muslimen zugänglich, da Theologie und Recht im Islam aufs Engste verzahnt sind, und auch heute wird es in manchen islamisch geprägten Ländern gar nicht, in anderen nur unter Schwierigkeiten möglich sein, dass ein Christ den Beruf des Richters ergreift.
Zweitens ist die Anrufung des Friedensrichters aber auch eine Zufluchtnahme beim klassisch-islamischen Schariarecht, weil es insbesondere bei Körperverletzung die Wiedervergeltung mit einer analogen Verletzung oder – bei Totschlag – die Hinrichtung des Opfers fordert, oder aber die Ablösung des Schuldigen mit Geld erlaubt. Die Wiedervergeltung beschreibt der Koran als legitimes Vorgehen und die ersatzweise „Beitreibung von Blutgeld“ als „Barmherzigkeit“ (Sure 2,178) – auch wenn heute in den meisten islamisch geprägten Ländern das Schariarecht im Strafrecht abgeschafft ist und häufig nur noch im Zivilrecht gilt, wird doch der Anspruch, dass das gesamte Schariarecht göttliches, unveränderliches Recht darstellt, von der klassischen islamischen Theologie unverändert in Moscheen und Universitäten gelehrt und beibehalten.
Drittens hat die Akzeptanz und der Einsatz der Friedensrichter mit traditionellen nahöstlichen Ehrvorstellungen zu tun, denn derjenige, der bei einem Übergriff keine Stärke demonstriert (und keine Vergeltung verübt oder lieber die Polizei zur Hilfe holt), gilt kulturell vielfach als ehrlos, schwach und verächtlich. Diese Ehrbegriffe sind nicht nur vereinzelt unter Muslimen noch lebendig, sondern bei einem Teil der Zuwanderer auch in der dritten Generation deutlich wahrnehmbar. So wurden laut Wagner bei einer Umfrage im Jahr 2009 Ehrenmorde von immerhin 30% der türkischen Studenten in Deutschland – also im Bereich des oberen Bildungssektors – als „eine legitime Reaktion auf die Verletzung der Familienehre“ bezeichnet.
Und viertens hat die Ablehnung der deutschen Justiz in islamisch geprägten Gemeinschaften auch etwas mit dem von muslimischen Gelehrten zu Beginn der 1990er Jahre entwickelten „Minderheitenrecht“ zu tun[2], das Muslimen in der Diasporasituation erlaubt, das Schariarecht nicht in jedem Fall ganz anzuwenden, sondern sich zeitweise an das in der Diaspora geltende Recht anzupassen,[3] ohne jedoch den Schariaanspruch prinzipiell aufzugeben. Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926), der heute wohl einflussreichste sunnitische Gelehrte weltweit, der mit seinen islamistischen Auffassungen im Internet mit mehreren eigenen Webseiten, zahllosen Publikationen und über Fernsehsendungen ein Millionenpublikum erreicht, ruft die muslimische Minderheit in westlichen Gesellschaften beständig auf, sich ihrer besonderen Identität bewusst zu werden, aus der Passivität zu erwachen und es als ihre eigene Aufgabe zu erkennen, nicht-islamische Gesellschaften aktiv umzugestalten. Daher dürfen Muslime aus al-Qaradawis Sicht in der Diaspora die Scharia nicht aufgeben, sondern müssen eine Durchdringung der Gesellschaft mit der Scharia anstreben.[4]
Das Ziel eines derartigen Minderheitsrechts ist also nicht die Integration der muslimischen Migranten in die europäischen Gesellschaften und eine volle Akzeptanz der dortigen Ordnung oder des Rechtssystems; vielmehr verpflichtet es in umgekehrten Sinne Muslime, die als Minderheit in europäischen Gesellschaften leben, dazu, in Europa die dauerhaft Anderen zu sein und soweit wie möglich nach schariarechtlichen Vorgaben zu leben. Auf solche, in der islamischen Gemeinschaft sehr einflussreiche Führungsfiguren, ist es u. a. zurückzuführen, dass sich auch in der dritten Generation von Muslimen in Deutschland ein Teil in einer dauerhaften Distanz zur deutschen Gesellschaft – und damit auch zum deutschen Rechtssystem – verharrt. Laut einer im Jahr 2007 vom Bundesinnenministerium breit angelegten Studie mit dem Titel „Muslime in Deutschland“ liegt der Anteil derjenigen, die aufgrund ihrer Distanz zu Demokratie und westlicher Gesellschaft, rigiden religiösen Einstellung und Geringschätzung anderer Religionen einer latenten Radikalisierungefahr unterliegen, bei einem eklatant hohen Anteil: „Fundamentale Orientierungen, die eine enge religiöse Bindung, hohe Alltagsrelevanz der Religion, starke Ausrichtung an religiösen Regeln und Ritualen verbinden mit einer Tendenz, Muslime, die dem nicht folgen auszugrenzen sowie den Islam pauschal auf- und westliche, christlich geprägte Kulturen abzuwerten, zeigen eine enorme Verbreitung. In der Allgemeinbevölkerung sind etwa 40% einem solchen Orientierungsmuster zuzuordnen.“[5]
Eine logische Fortentwicklung dieser privat agierenden Friedensrichter wäre die Einrichtung von Schariagerichtshöfen, deren illegale Existenz in verschiedenen europäischen Ländern immer wieder einmal durch die Presse ging: So tauchten etwa 2003 Berichte über illegal Recht sprechende Schariagerichte aus dem Großraum Mailand in Norditalien auf, die z. B. sexuelle Vergehen und Diebstähle mit Gliederamputationen und Auspeitschungen bestraft haben sollen.[6] In Großbritannien hingegen operieren Schariagerichte mit staatlicher Billigung, um zivilrechtliche Fragen wie Scheidung, aber auch häusliche Gewalt oder Streitigkeiten um finanzielle Dinge innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zu regeln:[7] „Möglich wurde die Einführung der Scharia-Gerichtsbarkeit durch ein Gesetz über Schiedsgerichte aus dem Jahr 1996. Dort waren Scharia-Gerichte als Schlichtungsgerichte bezeichnet worden. Die Entscheidungen solcher Gerichte sind nach dem Gesetz bindend, wenn die Streitparteien das Gericht für ihren Fall anerkennen. Sheikh Faiz-ul-Aqtab Siddiqi, der Leiter der neuen Scharia-Gerichte, erklärte, man habe diese Lücke ausgenutzt, um die Urteile von Scharia-Gerichten, die ja Schiedsgerichte seien, in das britische Rechtssystem einzuführen. Eine Sonderrechtssprechung gibt es freilich nicht nur für Muslime, seit mehr als 100 Jahren verhandeln auch jüdische Beth din-Gerichte Zivilrechtsverfahren.“[8]
Auch Kanada ist an besonders prominenter Stelle im Zusammenhang mit den Schariagerichtshöfen zu nennen: Dort haben muslimische Frauenrechttlerinnen in den vergangenen Jahren für die Abschaffung dieser religiösen Gerichtsbarkeiten gekämpft, weil sie besonders im Eherecht nicht unter das Frauen grundsätzlich benachteiligende Schariarecht gezwungen werden wollten. Die Diskussion über Schariagerichtshöfe in Deutschland wird sicher bald wieder aufleben.
[1] Joachim Wagner. Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat. Econ: Berlin, 2011.
[2] So Sarah Albrecht. Islamisches Minderheitenrecht. Yusuf al-Qaradawis Konzept des fiqh al-aqalliyat. Ergon: Würzburg 2010, S. 19f.
[3] Vgl. etwa die Ausführungen eines der bedeutendsten Vertreter des Minderheitenrechts für die islamische Gemeinschaft in Europa, Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926) in seinem Werk fiqh al-jihad. dirasa muqarana li-ahkamihi wa-falsafatihi fi dau’ al-qur’an wa-’s-sunna, Maktabat wahba: al-Qahira, 20091, Bd. 1, S. 29ff.
[4] Yusuf al-Qaradawi widmete sich der besonderen Situation islamischer Minderheiten in nicht-islamischen Gesellschaften in Artikeln, Fatawa und in seinem Werk fi fiqh al-aqalliyat al-muslima. hayat al-muslimin wasat al-mujtama’at al-uhra, al-Qahira: Dar ash-shuruq, 2001.
[5] Muslime in Deutschland. Eine Studie des Bundesinnenministeriums zu Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen von Katrin Brettfeld und Peter Wetzels, 509 S., Hamburg 2007, S. 493. Vgl. auch meine Zusammenfassung unter URL: http://www.gknd.de/Dokumente/030-Publikationen/033-Sachbeitraege/SB-2008-05-22.pdf (16.02.2009).
[6] Vgl. etwa den Bericht unter URL: http://www.wams.de/data/2003/01/05/30213.html (14.02.2009).
[7] S. den Bericht unter URL: http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/crime/article4749183.ece (14.02.2009).
[8] URL: http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/crime/article4749183.ece (14.02.2009).
Quelle: Islam und christlicher Glaube / Islam and Christianity 12 (2012) 2: 28–34.