„Es ist kein Zwang in der Religion“ (Sure 2,256): Gewährt der Islam Glaubensfreiheit? Nur dann, wenn es um die Hinwendung zum Islam geht. In der Regel halten Muslime ebenso wie Vertreter der islamischen Theologie die Hinwendung eines Menschen zum Islam für wünschenswert, während seine Abwendung, sein „Abfall“ sehr negativ beurteilt wird. Das gilt umso mehr, wenn sich der „Apostat“ einer anderen Religion zuwendet, wie etwa dem christlichen Glauben. Muslime, die offen bekennende Atheisten oder Christen werden oder einer nicht anerkannten Minderheit wie den Baha’i angehören, sehen sich mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert:
Oft steht ihre Familie ihrer Entscheidung mit völligem Unverständnis gegenüber und versucht, sie umzustimmen, bedroht oder verstößt sie sogar, denn Abfall bedeutet für sie Schande, Verrat und Skandal. Der Konvertit kann in den meisten islamischen Ländern nach Gesetz enterbt werden, ihm droht die Zwangsscheidung, seine Kinder können ihm entzogen werden, und er verliert oft seine Arbeitsstelle und sein Zuhause. In dramatischen Fällen kann es soweit kommen, dass Mitglieder der Familie oder Gesellschaft selbst Hand an den Konvertiten legen und ihn misshandeln oder versuchen, ihn umzubringen. Manche Muslime glauben, die gesellschaftliche Schande nicht ertragen zu können, andere hören vom Imam oder Mullah, dass es nach Schariarecht die Pflicht jedes Gläubigen sei, Konvertiten auch ohne Gerichtsverhandlung zu töten.
Folgen des Abfalls vom Islam
Daher gehört der Vorwurf des Unglaubens, des Abfalls vom Islam und der Blasphemie in islamisch geprägten Gesellschaften zu den folgenschwersten Anklagen überhaupt. Nicht immer zielt er darauf ab, dass eine Person den Islam verlassen oder sich der Gotteslästerung schuldig gemacht hat. Er richtet sich auch gegen missliebige politische Gegner oder wird benutzt, um Besitz zu erpressen. Dies ist besonders in Pakistan der Fall, wo die ab 1980 schrittweise eingeführten Blasphemiegesetze als scharfe Waffe benutzt werden, um vor allem Minderheiten wie die Ahmadiya und Christen unter Druck zu setzen. Dort haben bereits mehrere Politiker – bisher vergeblich – versucht, die Blasphemiegesetze zu entschärfen:
So wurde Shabazz Bhatti, Minister für Religiöse Minderheiten und Mitglied der regierenden Pakistan Peoples Party (PPP), in Islamabad am 02.03.2011 ermordet, nachdem er angekündigt hatte, die Blasphemiegesetze revidieren zu wollen. Auf dem Weg zu seinem Ministerium war er von drei Attentätern aus seinem Wagen gezerrt und in aller Öffentlichkeit hingerichtet worden. Die Terrorgruppierung Tehrik-i Taliban Pakistan (TTP) übernahm die Verantwortung für die Tat. Das Ministerium für Religiöse Minderheiten wurde von der Regierung daraufhin aufgelöst. Die regierende Pakistan Peoples Party (PPP) verurteilte die Taten nur verhalten und zog nach heftigen Straßenprotesten ihren Antrag auf Revision der Blasphemiegesetze im Parlament zurück.
Koran, Überlieferung und Theologie über den Abfall
Zwar sagt der Koran: „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2,256). Auch haben muslimische Theologen im Laufe der Geschichte der Koranauslegung häufig betont, dass niemand zur Konversion zum Islam gezwungen werden dürfe. Das spiegelt sich auch mindestens in Teilen der islamischen Eroberungsgeschichte wider. Christen und Juden durften in den von Muslimen eroberten Gebieten in der Regel ihren Glauben und ihre religiöse Autonomie behalten, mussten also nicht konvertieren, wurden dafür aber „Schutzbefohlene“ (dhimmi), die Sondersteuern entrichten und sich unterwerfen mussten. Sure 2,256 bedeutet nach überwiegender Meinung der Theologen aber nicht, dass der Islam für den freien Religionswechsel, für Religionsfreiheit im umfassenden Sinne oder die Gleichberechtigung aller Religionen eintreten würde. So waren Juden und Christen im Laufe der Geschichte im islamisch eroberten Gebiet Geduldete, Bürger zweiter Klasse und rechtlich Benachteiligte, da sie einer durch den Islam überholten – und durch die Abweichungen vom Islam als verfälscht beurteilten – Religion anhingen.
In der Tatsache, dass schon der Koran das Juden- und Christentum als minderwertige Religionen ansieht, liegt ein Grund, warum eine Konversion zum Christentum als grundlegend falsch gilt. Denn sie scheint ein Rückschritt zu einem überholten Glauben zu sein, der aus Sicht des Islam durch das Kommen des Islam und Muhammad, das „Siegel der Propheten“ (Sure 33,40), abgelöst wurde. Die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ nennt in Art. 10 den Islam „die Religion der reinen Wesensart“. Zudem gilt das Christentum oft als „westliche“ Religion, als Religion der Kreuzfahrer und Kolonialherren, und wird mit westlich-politischer Dominanz verknüpft.
Abfall bedeutet Schande und politischen Aufruhr
Ein weiterer Grund für die Ablehnung des freien Religionswechsels liegt in der Tatsache, dass die Abwendung vom Islam von vielen Muslimen nicht als Privatangelegenheit betrachtet wird, sondern als Schande für die ganze Familie oder sogar als politisches Handeln, als Unruhestiftung, Aufruhr oder Kriegserklärung an die muslimische Gemeinschaft. Weil sich nach Muhammads Tod im Jahr 632 mehrere Stämme auf der Arabischen Halbinsel, die den Islam zunächst angenommen hatten, wieder von ihm abwandten, bekämpfte Abu Bakr, der erste Kalif nach Muhammad, diese Stämme in den sogenannten ridda-Kriegen (Abfall-Kriegen) und schlug ihren Aufstand erfolgreich nieder. Daher ist der Abfall vom Islam im kollektiven Gedächtnis der muslimischen Gemeinschaft von der Frühzeit an mit politischem Aufruhr und Verrat verknüpft.
Der Koran spricht einerseits vom Unglauben der Menschen und vom „Abirren“ (2,108), dem der „Zorn Gottes“ (9,74) sowie die „Strafe der Hölle“ (4,115) drohen, definiert aber kein irdisches Strafmaß und benennt kein Verfahren zur einwandfreien Feststellung der Apostasie. Einige Verse scheinen sogar die freie Religionswahl nahezulegen (z. B. 3,20), während andere, wie etwa Sure 4,88-89, Muslime ermahnen, die zu „greifen und zu töten“, die sich abwenden. Ein vieldeutiger Textbefund also, der von einigen wenigen muslimischen Theologen so ausgelegt wird, dass der Koran volle Religionsfreiheit befürworte, während andere argumentieren, der Koran votiere für die Todesstrafe bei Abfall.
Die bis zum 9./10. Jahrhundert zusammengetragene islamische Überlieferung verurteilt den Abfall schärfer und fordert nun auch eindeutiger die Todesstrafe. Dieser Forderung schließen sich bis zum 10. Jahrhundert die Gründer und Schüler der vier sunnitischen Rechtsschulen sowie der wichtigsten schiitischen an, so dass die Mehrzahl der einflussreichen Theologen der Frühzeit des Islam die Todesstrafe bei Konversion fordert und dies in den Strafrechtstexten der Schariakompendien niederlegt.
Ob die Todesstrafe, besonders in der Frühzeit des Islam, in jedem Fall vollzogen wurde, ob der Abgefallene Gelegenheit zur Reue erhielt und wer überhaupt berechtigt war, den Abfall zu beurteilen und den Beschuldigten anzuklagen und hinzurichten, ist aus der Geschichte nicht lückenlos zu rekonstruieren. Bis zum 19. Jahrhundert sind einige konkrete Fälle von Hinrichtungen bekannt, aber auch Fälle von Begnadigungen.
Die Brisanz der Apostasie heute
Im 20. Jahrhundert erhält die Thematik eine ganz neue Bedeutung. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Islamismus und der Forderung politisch-islamischer Kräfte, die Scharia in vollem Umfang zur Anwendung zu bringen, erheben sich vermehrt Rufe nach der Hinrichtung von Apostaten. Progressive Koranausleger, Frauenrechtlerinnen, Journalisten und Autoren, Säkularisten und Angehörige von Minderheiten werden vermehrt wegen Apostasie angezeigt. So kam es in den letzten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts in Ägypten zu mindestens 50 Anklagen wegen Apostasie vor Gericht (darunter der berühmte Fall Nasr Hamid Abu Zaid). Einige Theologen forderten die Einführung der Todesstrafe im ägyptischen Recht.
Heute vertreten muslimische Theologen vor allem drei Positionen zur Frage der Apostasie: Eine Minderheit fordert wie der einflussreiche pakistanische Journalist und politische Aktivist Abu l-A’la Maududi (gest. 1979) kompromisslos die Todesstrafe für jeden, der den Islam verlässt. Eine weitere Minderheit fordert wie der von den Malediven stammende Theologe Abdullah Saeed (geb. 1960) unbedingte Glaubensfreiheit, wozu auch die Freiheit gehört, sich vom Islam ab- und einer neuen Religion zuzuwenden.
Die Mehrheit der Theologen dürfte heute die Auffassung des international einflussreichen ägyptischen Gelehrten Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926) befürworten: Danach darf ein Muslim zwar in seinem Innersten Zweifel hegen, aber nicht darüber sprechen, zu einer anderen Religion konvertieren oder versuchen, andere vom Islam abzuwerben. Auch die Scharia, den Islam, den Koran oder Muhammad darf er in keinem Aspekt kritisieren. Tut er dies, wird das in der Regel als Aufruhrstiftung, Verrat und Entzweiung der muslimischen Gemeinschaft betrachtet, die unterbunden und bestraft werden muss; al-Qaradawi hält in diesem Fall die Todesstrafe für verpflichtend. Er deklariert das Gegenteil von Religionsfreiheit als „Religionsfreiheit“.
Bringt die Arabellion Religionsfreiheit?
Die rechtliche und gesellschaftliche Situation ist von Land zu Land sehr verschieden: Der Nordsudan etwa bedroht den Abtrünnigen per Gesetz mit der Todesstrafe. In Ägypten existiert zwar per Gesetz Glaubensfreiheit, aber angesehene Gelehrte der al-Azhar haben verschiedentlich zur Hinrichtung von Abgefallenen aufgerufen. In der Türkei schließt das Gesetz auch die Freiheit ein, sich öffentlich zu seinem Glauben zu bekennen, auch wenn dieser durch Konversion angenommen wurde. Gesellschaftliche Nachteile und Diskriminierung aber sind überall zu erwarten.
Obwohl es sie viel kostet, kritisieren manche Muslime die traditionelle Auslegung des Islam, prangern mutig den Mangel an Menschen- oder speziell Frauenrechten an (was ihnen gleichermaßen den Vorwurf des Abfalls einbringen kann) oder wenden sich dem christlichen Glauben zu. Manche werden unter Druck gesetzt, müssen außer Landes fliehen, andere werden inhaftiert, gefoltert, wegen zu Unrecht erhobener Anklagen wie Drogenhandel oder Spionage verurteilt oder sogar umgebracht. Manche Konvertiten kehren später wegen des großen gesellschaftlichen Drucks, der ihnen vor Ort kaum eine legale Existenz als Andersgläubige ermöglicht, wieder zum Islam zurück.
Umgekehrt konvertieren sowohl in islamisch geprägten Gesellschaften als auch in westlichen Ländern nominelle oder auch praktizierende Christen zum Islam, teilweise im Zuge einer Eheschließung, aber nicht nur deshalb. Einige dieser Konvertiten gerieten unter den Einfluss radikaler Prediger und haben als Jihad-Kämpfer in Afghanistan oder Pakistan von sich reden gemacht.
Fehlende Religionsfreiheit geht immer einher mit fehlenden politischen wie persönlichen Freiheitsrechten. Religionsfreiheit ist noch längst nicht in allen Teilen der Welt eine Selbstverständlichkeit. Angesichts einer gewählten islamistischen Mehrheit im Parlament wie in Ägypten nach der Arabellion, die an der Einheit von Religion und Staat festhalten wird, scheint sie sich auch dort auf absehbare Zeit nicht anzubahnen.
Quelle: „Konversion und Glaubensfreiheit im Islam“, IfI-Pressemeldung zur Konversion und Glaubensfreiheit im Islam“ vom 26.01.2012